Liebe Besucher unseres Casa Cara
Ich sitze gerade an einem schneereichen Januar nachmittag in einer Wohnung am Prenzlauer Berg und blicke nach draussen: ein düsterer Spätnachmittag, urbane Tristesse, dazu melancholische Musik von der Platte: Sting singt „Fragile“ – zerbrechlich.
Er hat so recht damit: Wir sind zerbrechlich. Und es ist gut, wenn wir das wahrhaben wollen:
„On and on the rain does fall, like tears from the star. On and on the rain will see, how fragile we are, how fragile we are!“
Wenn wir zugeben, dass wir keine unangefochtenen Helden sind, sondern Brüder und Schwestern, die einander brauchen, weil nur in der Gemeinschaft Wunden heilen können, wird eine neue, zärtliche Gewissheit entstehen: Zerbrechlich, ja, aber auch unendlich geliebt!
Warum ist mir dieser Gedanke so wichtig zu Beginn dieses neuen Jahres?
Für mich persönlich, aber auch global war 2014 ein sehr spannungsreiches, ja ambivalentes Jahr:
Mein Vater Wolfgang Lang ist 2014 gestorben. Ich weiß ihn gut aufgehoben und war dennoch voller Trauer. ein lieber Mensch ist nicht mehr da!
In der Begegnung mit unserer Endlichkeit kann solch eine Weisheit Raum bekommen: Verletzlich, endlich – so ist unser Leben. Und darum kann ich dankbar jeden Moment wahrnehmen, der mir geschenkt ist und der sich mit Freude und Gelassenheit füllt.
Global war 2014 ein echtes Krisenjahr: Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht nach dem zweiten Weltkrieg. Seit langem gab es nicht so viele bewaffnete Konflikte und Kriege.
Und dann der Paukenschlag am Anfang dieses Jahres: drei junge Männer ermorden Journalisten und unschuldige Menschen in Paris.
Und zugleich gehen Millionen Menschen in einer nie dagegewesenen Geste der Solidarität auf die Strasse und bekennen: Je suis Charlie! Der Angriff geht gegen mich selbst, weil ich (und die Angreifer) ein Teil der Menschheit bin(sind).
Die Reaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdou läßt nicht auf sich warten: Wieder eine Mohammed Karikatur, noch eins auf die Mütze, heiliger Zorn mit allen Mitteln der Ironie!
Genau hier kommt Sting ins Spiel und diesmal ist sein Name Programm: Stachel!
Sein Song Fragile legt die Hand in die Wunde: Solange wir uns gegenseitig bekämpfen, mit Waffen, mit Worten, mit Gesten der Überlegenheit und Stärke, werden wir nicht vordringen zu der tiefen Weisheit, die uns unsere Zerbrechlichkeit lehren kann: Weil ich um meine Verletzbarkeit weiß, weil ich meine Wunden kenne, kann ich anderen Menschen zugestehen, dass sie verletzt sind, ich kann Vergebung üben und mich und meine Grenzen sowie meinen Nächsten und seine Grenzen annehmen.
In der Bergpredigt sagt der, der die Verletzbarkeit zu seinem Lebensprinzip gemacht hat: „Was siehst du aber den Stachel in deines Bruders Auge uns sagst: `Halt Bruder, lass mich den Stachel aus deinem Auge ziehen?` und wirst des Balkens in deinem eigenen Auge nicht gewahr? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und dann sieh zu, wie du den Stachel aus deines Bruders Auge bekommst!“
Ich möchte daraus lernen. Lernen, nicht so schnell mit einem Urteil bei der Hand zu sein. Meine Schubladen geschlossen halten. Weniger Meinung, aber mehr Mitgefühl.
Das ist es, was dieses Jahr 2015 braucht, weltweit und in meinem eigenen kleinen Leben: Mitgefühl!
Wer ein kleines Kind sieht, wird fast von selbst in diese weiche und liebevolle Wahrnehmung hineingezogen. Wir können es üben, auch wenn wir normale Menschen sehen oder vielleicht sogar von Wut, Trauer oder Verblendung zerstörte Aggressoren: Ich darf mich dieser sanften und zärtlichen Empfindung öffnen, weil ich weiß: ich bin verletzbar. Und ich bin geborgen. Ich bin geliebt!
Andy Lang 20.1.15